Vom Krieg zur Versöhnung
Grenzen und Identitäten hinterfragen
Autor : François Ernenwein
Das erinnert vielleicht an den grünen Blitz oder die blaue Stunde, die Eric Rohmer filmte, oder gar an die Maloja-Schlange aus Olivier Assayas' „Die Wolken von Sils Maria“: Es gibt keinen Beweis für die Existenz dieser Phänomene. Doch jeder glaubt, sie gesehen zu haben. Und hat allen Grund, davon zu träumen …
Die berühmte blaue Linie der Vogesen ähnelt all dem. Wer hat nicht schon einmal davon gehört? Doch niemand hat sie je genau beschrieben. Wer weiß schon, woraus sie besteht? Außer vielleicht, wenn man die Vogesen im Morgengrauen betrachtet, wenn die Tannen auf den Bergkämmen erstrahlen und, wie manche erklären, „Aerosole“, Isopren oder Sabinen, freisetzen.
In Wahrheit hilft die Wissenschaft hier nicht wirklich weiter. Schon bevor sich der Ausdruck durchsetzte, war alles darauf ausgerichtet, dass er sich im Bewusstsein von Millionen Franzosen festsetzen würde. Er sollte somit das Schicksal von Millionen von Männern und Frauen über mehrere Generationen prägen.
In den „verlorenen Provinzen“
Am 4. August 1870 spielten sich im Elsass entscheidende Ereignisse ab. Die sanften Hügel wurden zum Schauplatz einer vernichtenden französischen Niederlage. Vom Geisberg, einem Berg oberhalb von Wissembourg, wurde die französische Infanterie von bayerischen Truppen in die Flucht geschlagen.
Die erste Niederlage, die vor dem Hintergrund der durch Offiziersnachlässigkeit und logistische Probleme verursachten Desorganisation der französischen Armee erfolgte, ebnete Sedan den Weg… Trotz des heldenhaften, aber letztlich vergeblichen Angriffs der Kürassiere bei Reichshoffen triumphierte Bismarck. Elsass und Lothringen sollten schließlich dem Land entrissen werden.
Ab 1871 wurden die „verlorenen Provinzen“ zu einem Quell immenser französischer Nostalgie, zu einer ständigen Lektion in Patriotismus, die in Schulen umfassend gelehrt und von jenen, die vor den Deutschen geflohen waren, immer wieder bekräftigt wurde. Rund 125.000 Menschen verließen Elsass und Lothringen und nutzten die im Frankfurter Frieden vorgesehene Möglichkeit. Nach Ablauf der legalen Auswanderungsfrist flohen viele junge Männer nach Frankreich, um dem Militärdienst in der deutschen Armee zu entgehen.
Eine Horizontlinie
Als Jules Ferrys Testament jedoch am 7. März 1893 veröffentlicht wurde, dauerte es eine Weile, bis sich der Ausdruck durchsetzte. „Ich wünsche mir, im selben Grab wie mein Vater und meine Schwester zu ruhen, mit Blick auf jene blaue Linie der Vogesen, von wo aus zu meinem treuen Herzen die ergreifende Klage der Besiegten aufsteigt.“, hatte diese gewaltige Figur der Dritten Republik am Ende seines letzten Willens und Testaments geschrieben (Ferry, 1993, Bd. VIII, S. 437).
Bereits vier Jahre zuvor hatte er bei einer Preisverleihung an der École Saint-Dié eine ähnliche Formel verwendet. Die ästhetische Dimension (die Farbe Blau) steht im Kontrast zum politischen Unterton (der Klage über ein besiegtes Frankreich). Jules Ferry selbst befürwortete jedoch nie eine aggressive Politik gegenüber Deutschland. Er zog stets eine groß angelegte Kolonialpolitik Frankreichs der Rache vor.
Die Presse griff seine Worte auf und bot so unterschiedliche Interpretationen. Für einige war Jules Ferrys Blau ein „nationales“ Symbol, das der gleichnamigen Garde, der Erben der Revolution. Im Gegensatz dazu bot der Kommentar zum Testament in „La Croix“ vom 25. März den Katholiken vor allem die Gelegenheit, mit dem Mann abzurechnen (und davon gab es einige!), der sich ihnen so vehement widersetzt hatte. „Nein, er sollte nicht in Saint-Dié ruhen. Die blaue Linie der Vogesen ist ein zu anmutiger, zu religiöser Ort für seine verhasste Gestalt. Sainte Odile ist zu nah; zu viele Priester gehen vorbei, zu viele Glocken läuten, zu viele Kinder beten dort.“
Ein Ausgangspunkt
Der Ausdruck erlangte daher nicht sofort weite Verbreitung. Er wurde weder in der Presse verwendet, so lyrisch er auch klingen mag, als die Tour de France im Juli 1905 den Ballon d'Alsace hinauffuhr, noch nach dem Attentat auf Jaurès im Juli 1914.
Doch es taucht weiterhin in militärischen oder patriotischen Reden auf, die die Republik kritisieren, weil sie nicht rachsüchtig genug sei. Das Bild wird allmählich einen Patriotismus mit gegensätzlichen Formen stützen.
Jedenfalls zogen sie 1914 an die Front, um den Konflikt mit Deutschland ein für alle Mal beizulegen. Die blaue Linie war nicht länger nur ein Horizont; sie war zum Ausgangspunkt einer Rückeroberung geworden … „Eine gewaltige Streitmacht sammelt sich lautlos, eine Gefahr entsteht ohne Furcht – das ist Frankreich heute. Weder Prahlerei noch Aggression: Diesmal sind es andere. Und deshalb dürfen wir hoffen, und deshalb scheint uns von der blauen Linie der Vogesen ein unsterbliches ‚Trotzdem‘ zu erreichen, beredter als alles andere.“
Das Stirnmal
Tatsächlich stürmten die französischen Soldaten in ihren blauen Uniformen der Alpenjäger die berühmte Linie. Sie verlief noch immer von Luxemburg bis in die Schweiz und war durch Steinblöcke markiert. Diese 4.056 Granitsteine, 1,10 Meter hoch und 50 cm tief im Berg vergraben, waren in Abständen von etwa 60 Metern angeordnet und trugen ein F (für Frankreich) und ein D (für Deutschland), die in den Stein eingraviert waren.
Nach der Niederlage von 1871 wurde die Hälfte davon von den Siegern bezahlt (von Terminal 1 bis 2008 im Donon-Massiv), die weitere Hälfte von den Besiegten.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs raste in der Nähe des Weilers Rudlin, neben einem prächtigen Wasserfall, ein kleiner Zug in Richtung der französischen Eisenbahnlinie und der Blauen Linie, die sich bei Gazon du Faing trafen. Eine schiefe Ebene diente als Metapher für diese Rückeroberung. Es sollte noch drei Jahre dauern, bis sie vollends realisiert wurde.
Das Zeichen der Annexion
Die Abfahrtsstation befindet sich in L’Ermitage auf 717 Metern Höhe, die Zielstation auf über 120 Metern. Das Gefälle beträgt 25 %. Eine bemerkenswerte technische Leistung, wenn man bedenkt, wie massiv die Wälder zwischen August und September 1915 von 400 Menschen abgeholzt wurden.
Dies war ein bedeutender Beitrag zur Offensive, die Zehntausende Tote auf beiden Seiten zur Folge haben sollte. Entlang der gesamten Blauen Linie und an ihrem Fuß zeugen zahlreiche Friedhöfe von der Brutalität der Kämpfe. Manche sind sehr eindrucksvoll, andere eher schlicht und manche ergreifender.
1940 tauchte die Blaue Linie wieder auf und wurde nach der Annexion des Elsass-Mosellandes durch das Dritte Reich stark bewacht. Sie markierte erneut die Grenze. Die Gauleiter errichteten um Straßburg und Metz die nationalsozialistische Ordnung. Erst zwischen 1944 und 1945, nach heftigen Kämpfen an ihren Flanken (im Colmarer Kessel), verschwand sie vollständig.
Das Symbol der Versöhnung
Doch es bleibt ein Symbol. Diese Zeit der Versöhnung. Unmittelbar neben den Markierungen der blauen Linie in Dabo (Mosel) legten François Mitterrand und Helmut Kohl am 19. Juli 1983 den Grundstein für weitere Fortschritte in den deutsch-französischen Beziehungen. Dieses Treffen ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, überschattet von den Emotionen, die die ausgestreckten Hände ein Jahr später in Verdun auslösten.
Am Fuße der Moselvogesen, nahe dem Fluss Weißer Zorn, spazieren sie über eine Lichtung vor dem jahrhundertealten Waldhaus Jägerhof, wo ihre ersten Gespräche stattfanden. Sie sprechen über Raketen, über Entschädigungszahlungen Deutschlands an die „Unschuldigen“ – jene Elsässer und Moselbewohner, die im Zweiten Weltkrieg zwangsrekrutiert wurden. Sie diskutieren auch die Teilung des Mundater Waldes, einen Grenzstreit bei Wissembourg, wo alles im Jahr 1870 seinen Anfang nahm.
